Unsereins by Inger-Maria Mahlke

Unsereins by Inger-Maria Mahlke

Autor:Inger-Maria Mahlke [Mahlke, Inger-Maria]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2023-11-14T00:00:00+00:00


2 April 1894, Gründonnerstag. Die Sonne steht tief, wird jeden Augenblick hinter dem bulligen Feldsteinturm der St.-Lorenz-Kirche verschwinden, doch gerade scheint sie direkt ins Fenster im ersten Stock des Pfarrhauses. Georg liegt auf dem Bett, hält den Unterarm vors Gesicht, um die Augen zu beschatten. Die rechte Schreibtischplatte unterm Fenster ist leergeräumt und blank poliert, das andere Bett seit Tagen schon abgezogen. Gustav ist gleich nach der mündlichen Abiturprüfung nach Hause, wollte nicht zur Abschlussfeier bleiben. Und irgendwie ist Georg, als wäre er mit abgereist, so fremd kommt ihm das Zimmer vor. Auf den Stühlen stapeln sich seine gewaschenen Hosen und Hemden, der Koffer liegt aufgeklappt beim Schrank. Nach dem Mittagessen hatte er packen wollen.

Georg ist in Mantel und Schuhen, statt aufzubrechen, hat er sich auf die Matratze fallen lassen. «Unser letzter Gang», hatte Otto gesagt, als sie sich verabredeten, während um sie herum auf dem Vorderhof alle ausgelassen brüllten und zu den Pforten drängten, die Älteren mit Bierflaschen in der Hand. «Nie wieder im Kreuzgang stehen, nie wieder gemeinsam –» Tremolo in Ottos Stimme. Georg war froh gewesen, als einer der Vorbeilaufenden ihn anrempelte und er gegen Otto taumelte. Seit Tagen geht das so. Nicht dass Georg nicht auch seltsam zu Mute wäre. Gerade deswegen hätte er es lieber schon hinter sich.

«Alles gepackt?», ruft die Pastete hinter ihm her, als er sich mit einem «Ich bin in der Stadt» in Richtung Wohnzimmer verabschiedet. Ohne zu antworten, zieht er die Haustür hinter sich zu. Ihm graut vor dem Abendessen. Frederico ist nach Brüssel aufgebrochen, Georg ist der letzte verbliebene Pensionär. Schon beim Mittag herrschte unbeholfenes Schweigen, sodass er sich erstmals einen Vortrag über die Bausubstanz der St.-Lorenz-Kirche wünschte. Wenn er nicht pleite wäre, könnte er behaupten, eingeladen zu sein, und sich in der Stadt ein Würstchen kaufen. Aber sein letztes Taschengeld hat er gestern in der Kunsthandlung Nölting gelassen.

Die Feiertage wird Georg in Mehlitz verbringen, auch zum letzten Mal. Nach den Ferien aufs Berliner Wilhelmgymnasium wechseln, für die beiden Jahre bis zum Abitur. Und dann, wie Otto es ausdrückt: Buddeln. Im Herbst hatte der berühmte Professor Curtius, selbst ehemaliger Schüler der Anstalt, in der Aula über seine Ausgrabung in Olympia vorgetragen. Georg hatte sich Notizen machen wollen, später im Pastorat festgestellt, dass im Heft nur: Was unter allem verborgen liegt und 7 Meter obere Erdschicht, bis wir den einstmaligen Boden erreichten stand. Während Professor Curtius’ kunstgeschichtlichen Ausführungen träumte Georg von riesigen Palästen, schaufelte Mosaike frei, grub Statuen aus.

Als er zu Weihnachten in Kiel verkündete, er wolle Altertumskunde studieren, Archäologe werden, waren die Reaktionen eher gemischt. Seine Mutter war dagegen. Doch von Osteln nickte Georg zu: «Ich kann mit alledem nichts anfangen, aber sei dir meiner Unterstützung immer gewiss.» Sie waren zwar nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, das länger als zehn Minuten dauerte – ihre einzigen Themen: Mutter und Georgs Schwester Julchen –, doch mittlerweile kamen sie miteinander aus.

Im Januar erreichte ihn die Nachricht aus Mehlitz, der Großvater sei am Morgen nicht mehr aufgewacht. Das Gut wird verkauft, der Onkel hatte entschieden, sich als Rentier in Stettin niederzulassen.



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